Der tiefere Sinn im Wort "Erkenntnis".
Der freie Mensch und sein Bewusstwerden der geistigen Welt.
Ist es denn wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, was ein einzelnes Wort wirklich in aller Tiefe ausdrückt? Nun, es kommt darauf an, welche Rolle dieses Wort für die Evolution des Menschen spielt. Denn seit dem 15. Jahrhundert stehen wir Menschen an einem bedeutsamen Wendepunkt der ganzen irdischen Entwicklung der Menschheit. Wir sind seitdem in der Lage, als Menschen den freien Willen zu entfalten und den Weg in die Freiheit zu gehen.
Und es gibt ein Wort, das uns heute zeigt, wo wir Menschen auf der gegenwärtigen Entwicklungs-Etappe stehen: das Wort “Erkenntnis”. Denn in früheren Zeiten der Menschheit hatte dieser Begriff “Erkenntnis” einen viel tieferen Sinn als heute.
In der Zeit bis zum 15. Jahrhundert, war die Erkenntnis als das angesehen, was den Menschen mit der geistigen Welt zusammenbringt. Was man als Mensch im Verhältnis zum Geiste war, das schrieb man der Erkenntnis zu.
Heute sind wir dazu gekommen, uns nur noch für fähig zu halten, eine Erkenntnis zu entfalten, die mit dem Geist nichts zu tun hat. Was über den Geist gewusst werden kann, hat eine frühere Menschheit erforschen können. Die Fähigkeit zu dieser Erforschung ist uns heute verloren gegangen. Die Erkenntnis reicht heute eben nicht bis zur geistigen Welt, diese kann heute nur Gegenstand des Glaubens sein (vgl. Steiner, Rudolf: Anthroposophische Leitsätze. GA 26, Seite 244).
Heute betrachten wir das einseitige Gebrauchen der auf die Sinnenwelt gerichteten Erkenntnis als einen besonderen Fortschritt. Mit dem, was wir “Intellekt” nennen, erfassen wir jedoch nur die äußere, sinnliche Realität, ohne Wurzelung in einer geistigen Wirklichkeit.
Unsere Gedanken können heute nur Physisch-Materielles zum Gegenstand ihrer Erkenntnis machen, aus ihrem unmittelbaren Inhalt sind Geist, Seele und Leben getilgt. Erkenntnis ist heute die Erkenntnis im Sinne der Naturwissenschaft.
Die geistige Erkenntnis gibt es nur in der Form der Traditionen, des Glaubens und der Überlieferungen. Für das Erleben eines Verhältnisses zur geistigen Welt haben wir heute alles Verständnis verloren, wie die Erkenntnis in der Zeit bis vor dem 15. Jahrhundert zustande gekommen ist.
Und das hängt ganz einfach mit dem Bewusstsein des Menschen zusammen, wie der Mensch die physische Welt wahrnimmt.
Gehen wir 8.000 bis 10.000 Jahre zurück, dann sehen wir in der uralt-indischen Zeit noch ein Bewusstsein von der geistigen Welt in den Menschen. Sie sahen die geistige Welt nicht bewusst, sie hatten eher ein “dämmerhaftes Hellsehen”, aber sie erlebten in der physischen Welt die darin wirkenden geistigen Wesenheiten. Die wahre Welt, das war zu dieser Zeit die geistige Welt und der uralt-indische Yoga-Weg ein Zurückstreben in die geistige Welt, die als wahre Heimat des Menschen empfunden wurde. Das “alte” Hellsehen nahm dann in den folgenden Jahrhunderten immer mehr ab, aber noch bis zum 8./9. Jahrhundert hatte der Mensch das Bewusstsein: Wenn ich denke, dann empfange ich etwas aus der geistigen Welt. Die Gedanken und Ideen kommen nicht aus mir, sondern aus der geistigen Welt.
Mit dem 8./9. Jahrhundert veränderten sich dann aber die Verhältnisse und die “kosmische Intelligenz” wurde von der geistigen Welt “abgekoppelt” und uns Menschen übergeben. So entstand schrittweise das Empfinden: Wenn ich denke, dann bringe ich die Gedanken aus mir selbst hervor. Und mit Beginn des 15. Jahrhunderts ist die geistige Welt dann in völlige Vergessenheit geraten und die Menschen richten ihre von der geistigen Welt “abgekoppelte” Eigen-Intelligenz nur noch auf die rein äußerliche Sinneswelt aus. Wir verzichten seitdem darauf, Seelenkräfte zu betätigen, die sich erkennend in die geistige Welt erheben.
So kann man das Fortschreiten der Menschheit von der Bewusstseins-Etappe, auf der sich der Mensch als Glied der göttlich-geistigen Ordnung, bis zu der gegenwärtigen, durch die er sich als eine vom Göttlich-Geistigen losgelöste Individualität mit Eigengebrauch der Gedanken erfühlt, verfolgen (vgl. Steiner, Rudolf: Anthroposophische Leitsätze. GA 26, Seite 88).
Mit dem Loslösen aus der geistigen Welt begann für uns also die Freiheit und die Fähigkeit, den freien Willen zu entfalten. Kein Geistiges handelt mehr im Menschen. Die “kosmische Intelligenz” ist ganz in den Bereich der menschlichen Individualität getreten, als Eigen-Intelligenz.
Und das ist nun ein zweischneidiges Schwert! Denn heute haben unsere vom Geistigen abgekoppelten Gedanken und Ideen eine ganz andere Qualität:
Sie sind nicht mehr durchdrungen von geistiger Kraft, sie sind weder beseelt noch durchgeistigt. Die kalten, intellektuellen Prinzipien der Naturwissenschaft sprechen nur noch von Ursache und Wirkung. Unsere selbstgemachten Gedanken haben ihre Lebendigkeit verloren, geistig betrachtet sind sie “tote” Gebilde. Die Geistigkeit heute ist abstrakte Intelligenz geworden und wir bilden abstrakte, geistleere Ideen aus.
Und das ist etwas sehr Gefährliches für uns Menschen. Denn die lebendig-wesenhafte Kraft der geistigen Gedanken ist nicht mehr da und was rein im Intellekt bleibt, gibt dem inneren Menschen gar nichts. Für sein Inneres hat der Mensch vom Intellekt gar nichts.
Es besteht die Gefahr, dass die abstrakten Gedanken den Menschen in die Verhärtung führen, in den Egoismus und Materialismus. Materialismus ist, ganz in der Überzeugung zu leben, es gäbe gar keine geistige Welt, die physische Welt sei die ganze Wirklichkeit.
Eine andere Facette ist der versteckte, unterschwellige Materialismus. Hier wird die geistige Welt analog der physischen Welt gedacht, nur “irgendwie feiner”. Man spricht dann von “Energien” und “Resonanzphänomenen” und man ziehe Positives an, wenn man positiv denke und ähnlichen Unfug. Das ist Materialismus im Geistigen und ist noch gefährlicher als der reine Materialismus im Sinne der Naturwissenschaft. Weil er so klingt, als ob er geistig wäre, es aber überhaupt nicht ist und vom wahren Geistigen wegführt.
Eine Fortsetzung des alten Geist-Erkennens, wie zum Beispiel noch in der uralt-indischen Zeit, ist heute jedoch nicht mehr möglich. Es müssen die Seelenkräfte, indem die Bewusstseinsseele sich in ihnen entfaltet, ihre erneuerte, elementare, unmittelbar lebendige Verbindung mit der Geist-Welt erstreben. Anthroposophie will dieses Erstreben sein (vgl. Steiner, Rudolf: Anthroposophische Leitsätze. GA 26, Seite 252).
Der heutige Weg zum Erkennen der geistigen Welt geht also vom Denken aus, durch eine Verlebendigung des Denkens, die aber nur in aller Freiwilligkeit erfolgen kann.
“Verlebendigung” - damit ist gemeint, unser Denken heute wieder an die lebendige Kraft der geistigen Welt anzukoppeln. Und zwar auf eine ganz bewusste Art: bei wachem, klarem Bewusstsein, ohne Trance, visionäres Träumen, Phantasie, Mediumismus, Spiritismus, Drogen (Pilze) oder einem Guru.
Das eigenständige, bewusste Denken und Ich-Bewusstsein muss heute zu jedem Zeitpunkt auf einem geistigen Weg gegeben sein, sonst führt er in die Irre, weil er den Entwicklungsstand des Menschen nicht berücksichtigt.
Die Verlebendigung ist eine ruhige, besonnene Gedankenanstrengung. In kleinen Schritten wird der seelisch-geistige Inhalt in den Worten bewusst erlebbar gemacht. Denn die lebendige Kraft der geistigen Welt steckt in den Worten. Aber sie drängt sich nicht auf. Sie muss durch ruhiges, besonnenes, exaktes Lesen erlebbar gemacht werden. Und geeignet sind entsprechend auch nur Texte, die aus einer unmittelbaren geistigen Schau entstammen. Das sind u.a. die anthroposophischen Originaltexte von Rudolf Steiner, die Evangelien, insbesondere das Johannes Evangelium und die Offenbarung des Johannes.
Zeitgemäße Erkenntnis der geistigen Welt ist heute das bewusste, klare (Durch-) Denken dieser Texte und ihr Erleben, das Erleben der geistigen Kraft in diesen Texten. Auf diese Art entwickeln sich die Seelenkräfte und die Seele beginnt, das Geistige zu blicken. Und hierbei handelt es sich nicht um subjektive Bilder oder Visionen, sondern um objektiven Geistinhalt (eine Ergänzung hierzu ist dieser Blog).
Aus diesem lebendigen Bewusstsein gilt es, das Geistige zu ergreifen, zu verarbeiten und individuell Neues daraus wachsen zu lassen, das im Alltag wirksam wird. Denn geistige Erkenntnis ist kein Selbstzweck oder Sightseeing der besonderen Art. Wer es so auffasst, landet rasch in einer vorgetäuschten, scheingeistigen Welt, und hat keine Chance, dies zu bemerken.
Erkenntnis dient der Welt- und Selbsterkenntnis, die nur in der Welt des Geistes möglich ist. Es geht um nichts anderes, als sich selbst und die Welt auch im Geistigen zu erkennen und daraus bewusst als wahrhafter Mensch zu handeln.
Ja, es ist hierfür ein ganzes Stück Weg zu gehen, aber es ist der spannendste Weg, den man als Mensch gehen kann und unsere Menschheitsaufgabe ganz und gar, daraus unser Potenzial als Menschen zu verwirklichen.