Schritt für Schritt werden, der "Ich-bin"

wahrhafter Mensch werden - bewusst und frei wachsen - Neues im Leben erschaffen

Die zweite Lebenshälfte als eine Zeit des “erwartungsvollen Lebens."

Das schöpferische Potenzial des Alterns.


Rudolf Steiner spricht von der zweiten Lebenshälfte als einer Zeit des “erwartungsvollen Lebens.” 

Er meint damit die Zeit durchschnittlich ab dem 35. Lebensjahr. Alles frühere Aneignen von Erkenntnissen sei im Grunde nur Vorbereitung für jene Reife des Lebens, wo man wirklich überschauend sich Erkenntnisse aneignen kann. Die Lebensalter bieten etwas, was zu erwarten ist:

“Ich habe etwas zu erwarten. Ich werde dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig Jahre alt werden, und indem ich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt älter werde, kommt durch das Älterwerden etwas vom Geheimnis des Menschen mir entgegen. Ich habe etwas zu erwarten von dem, daß ich lebe.”
(Quellenangabe* am Ende des Blogs, Zitat im Buch auf Seite 200)

Was ist in diesem Zitat denn gemeint mit dem
“Geheimnis des Menschen”?

Damit ist die Aufforderung an uns gemeint, nach wirklicher Menschenerkenntnis zu streben, nach der Erkenntnis dessen, was der Mensch eigentlich auf der Erde ist.

Dabei ist der Kopf allein jedoch nicht imstande, die
Wesenheit des Menschen zu begreifen, denn die Weisheit des Kopfes geht ja tatsächlich nicht über gewisse Grenzen hinaus. Wenn wir nur rein materiell in die Welt blicken und nur den physischen Menschen sehen, der sinnlich sichtbar auf der Erde herumwandelt, dann kommen wir nicht zurecht. Denn was wir heute “Verstehen” nennen, handelt immer davon, dass wir durch abstrakte Begriffe und theoretisches Denken zu verstehen suchen.

Man kann aber nicht alles durch abstrakte Begriffe verstehen. Vor allen Dingen kann man nicht den Menschen durch abstrakte Begriffe verstehen. Man braucht etwas anderes zum Verständnisse des Menschen, zum Verstehen vom “Geheimnis des Menschen”.

Was brauchen wir?

Wir brauchen Wissen, an dem der ganze Mensch beteiligt ist, nicht nur der Kopf.
Rudolf Steiner nennt dieses Wissen in seinem Vortrag*
das “Herzenswissen”.

Der Mensch nimmt während seiner Jugendzeit gewisse Begriffe, gewisse Vorstellungen auf, die er lernt; aber er lernt sie eben nur. Sie sind dann Kopfwissen.
Das übrige Leben ist dazu bestimmt, das Kopfwissen umzuwandeln allmählich in Herzenswissen. Diese Umwandlung beginnt durchschnittlich mit dem 35. Lebensjahr, wo das Kopfwissen mit den Lebensjahrzehnten umgewandelt werden kann.

Die Umwandlung kommt aus dem geistigen Teil des übrigen Organismus des Menschen. Wie ein Seelenregen träufelt aus dem übrigen Organismus herab, das ganze Kopfwissen zu verarbeiten.
Jedoch sind für diesen Umwandlungsprozess Bedingungen erforderlich, die unser heutiges Kulturleben nicht erfüllt (wer möchte, liest diese zwei Bedingungen im Originaltext* nach).

Weiterhin kommt erschwerend hinzu, dass das Wissen heute nicht so ist, dass es in der Menschenseele arbeitet, dass aus Kopfinhalt Herzenswissen werden kann.
Dazu ist das Wissen, das heute vermittelt wird, gar nicht veranlagt.
So kommt es, dass die Umwandlung in Herzenswissen nicht stattfindet. Das Kopfwissen bleibt kalte Theorie, der Mensch trägt es das übrige Leben wie einen Kadaver in sich.

Was ist notwendig, um das Kopfwissen wirklich mit dem ganzen Menschen zu vereinigen?

Dafür muss man sein Leben hindurch
innerlich beweglich sein. Das Denken und Empfinden in Bildern und lebendigen Begriffen, nicht in Abstraktionen, treibt den Umwandlungsprozess.

Wir brauchen ein lebendiges Bewusstsein! Für unsere Zeit kommt es darauf an, dass jeder bei sich selbst damit anfängt, aus der Abstraktion heraustreten zu wollen, die Wirklichkeitsfremdheit abzulegen, und dass jeder bei sich selbst versucht, an das Wirkliche heranzukommen.

Unsere Zeit ist die Aufforderung, den Blick hinauszurichten auf die geistigen (übersinnlichen) Tatsachen und Kräfte.
Die wahre Erkenntnis ist die geistgemäße Erkenntnis. Das Erkenntnisorgan hierfür ist die Seele, insbesondere die Bewusstseinsseele (ausführlicher in diesem Blog), die sich durchschnittlich ab dem 35. Lebensjahr im Menschen beginnt auszubilden.

Ohne das lebendige, geistige Bewusstsein kann das Kopfwissen nicht Herzensweisheit werden. Die Zeit der Umwandlung ist herangekommen. Das ist gerade die Aufgabe der Zukunft.

Und wenn diese Umwandlung soziale Lebensweisheit wird, dann kommt eine neue Tiefe in das Leben hinein. Dann erkennen wir
das Potenzial der zweiten Lebenshälfte, in der die innerlichen Kräfte im Organismus frei werden, das Kopfwissen umzuwandeln.


Eine Lebensgetragenheit kann entstehen, wenn wir das Altern nicht mehr nur äußerlich, leiblich betrachten, sondern Jahrzehnt für Jahrzehnt dem Erkennen vom “Geheimnis des Menschen” entgegengehen und das Herzenswissen zurückfließen lassen in unser Umfeld, in die Gesellschaft, in das Kulturleben.

Du bist neugierig, wie nun ein erster Schritt der Umwandlung aussehen könnte? Es sind viele Fragen offengeblieben? Lass uns ein Stück gemeinsam gehen und darüber sprechen.



*Quellenangabe: Steiner, Rudolf: Zweiheit der menschlichen Gestalt: der Mensch als Kopfmensch und als Rumpfmensch, Dornach, 12. Januar 1918 (GA Bibl.-Nr. 180), in: Fucke, Erhard (2006): Rudolf Steiner. Themen aus dem Gesamtwerk 4. Vom Lebenslauf des Menschen. Neuausgabe (6. Gesamtauflage)

Der Text kann hier kostenfrei nachgelesen werden.

Noch wertvoller ist das ganze Buch „Vom Lebenslauf des Menschen“, es kann hier erworben werden.