Wie kann ich mich ganz erkennen?
Über die zwei Teile zur Selbsterkenntnis.
Beginnen wir damit, wichtige Hinweise auf die Frage nach der Selbsterkenntnis, im folgenden Zitat zu finden:
“Für den, der geistige Erkenntnis erlangt, ist der Erkenntnisprozeß etwas ganz anderes noch. Er ist etwas, was ganz und gar eine Verwirklichung des schönen Spruches ist: “Erkenne dich selbst!” Aber es ist das Gefährlichste auf dem Erkenntnisgebiete, diesen Spruch in mißverständlicher Weise aufzufassen; und das geschieht heute nur allzu häufig. Diesen Spruch legen sich manche Leute so aus: sie sollen nicht mehr in der Welt herumschauen, sondern in ihr eigenes Innere hineingaffen und alles Geistige in diesem ihrem Inneren suchen.
Dies ist eine sehr mißverstandene Auffassung des Spruches, denn das bedeutet er gar nicht. (...) Übt man Selbsterkenntnis auf die Weise, daß man nur in sich hineinbrütet, so sieht man nur, was man bisher schon hatte. Dadurch erlangt der Mensch aber nichts Neues, sondern nur eine im heutigen Sinne gemeinte Erkenntnis des eigenen niederen Ich. Dieses Innere ist nur der eine Teil, der zur Erkenntnis notwendig ist. Der andere Teil, der zur Erkenntnis gehört, muß hinzukommen.
Ohne die zwei Teile geht es nicht.”
[vgl. Steiner, Rudolf (2016): Das Johannes-Evangelium. Basel 5. Auflage, S. 218 ff.]
Es gibt also zwei Teile, nur wenn Du beide zusammen anschaust, erkennst Du Dich ganz. Rudolf Steiner schreibt in diesem Absatz von einem “niederen ich”, das Du erkennst, wenn Du in Dich hineinschaust.
Das ist doch ein Anfang: beim "in-sich-hineinschauen” gibt es etwas zu entdecken. Und dieses “niedere ich” ist das, wozu Du im Alltag “ich” sagst, also zum Beispiel:
“Ich heiße…”, “Ich bin von Beruf…”, “Ich habe diese Hobbies…”, “Ich mag...”, “Ich habe dieses Alter, jenen Familienstand”, “Ich wünsche mir…”, usw.
Das alles ist das “niedere” oder auch “kleine ich”, also Dein Alltagsbewusstsein. Dieses Alltagsbewusstsein kannst Du durch Reflexion, z.B. begleitet durch einen Coach, erweitern. Aber egal, wie viel Du "in-Dich-hinein-schaust", Du siehst dort immer nur den allerkleinsten Teil von Dir.
Dieses “kleine oder niedere ich” ist der Teil in Dir, der versucht, in diesem Leben einfach glücklich zu werden und seine persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Diesem Teil fehlt die Einsicht und die Weisheit in die Richtigkeit von Lebensereignissen wie z.B. Enttäuschungen, Krankheiten und Niederlagen, welche ihm im Leben widerfahren. Seiner Natur gemäß hat es nicht den großen Zusammenhang des menschlichen Entwicklungsweges vor Augen.
Nun war ja oben im Zitat von einem zweiten Teil die Rede und die Frage ist:
Was ist dieser zweite Teil und wo ist er?
Sich zu dieser Frage auf den Weg zu machen, ist die spannendste Reise überhaupt, denn hier kommen wir zur wahren Selbsterkenntnis.
Und dabei handelt es sich nicht um eine Theorie oder um Glauben, sondern es geht um das wahre Erkennen Deiner selbst. Dafür brauchst Du Deine Seelenkräfte (diese sind das Denken, Fühlen, Wollen). Denn die Seele ist ein Wahrnehmungsorgan, sie erfasst alles das, was nicht materiell, stofflich, gegenständlich ist.
Wie Du Deine Seelenkräfte “trainierst”, habe ich in diesem Blog beschrieben: “Über das lebendige Lesen und Denken”.
Der zweite Teil ist das höhere Ich, Dein geistiger Wesenskern, welcher von gleicher Wesenheit ist wie das Göttliche selbst. Genauso wie der Tropfen Wasser, der dem Meer entnommen ist, von gleicher Wesenheit (Substanz) ist wie das Meer, so ist Dein Wesenskern von gleicher Art und Wesenheit wie das Göttliche.
Ausführlich über den Wesenskern habe ich in dem Blog “Abenteuer Menschheit” geschrieben.
Erkennt man den Wesenskern, wenn man in sich hineinschaut?
Nein! Denn er ist ausgegossen über den ganzen Kosmos und hält sich immer in der geistigen Welt auf.
Wo kann man ihn dann erkennen?
In allem, was Dir von außen entgegenkommt! In jedem Menschen, der Dir begegnet, in jedem Tier, in jeder Pflanze, die Du anschaust. Überall dort ist er, überall dort draußen, und er kommt Dir permanent entgegen.
Denn Dein Wesenskern ist eine geistige Wesenheit, und wenn Du beginnst, die geistige Welt wahrzunehmen, nimmst Du auch Deinen geistigen Wesenskern wahr. Dies gelingt Dir durch Anwendung Deiner Seelenkräfte, denn die Seele ist das Wahrnehmungsorgan zum Erkennen des Geistigen (präziser gesagt: die Bewusstseinsseele, hier ausführlich beschrieben).
Deine Seelenkräfte zu “trainieren” und die geistigen Tatsachen zu erkennen, das ist zugegeben ein Stück Weg. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern es erfordert geduldiges Dranbleiben. Aber für den Anfang des Weges kannst Du erstmal nur ein Gefühl dafür entwickeln, dass Dein Wesenskern überall da draußen ist und Dir permanent begegnet.
Schau hin in den Begegnungen, schau hin auf die Tiere, die Pflanzen, auf alles, was dort draußen pulst. Schau hin und beginne zu fühlen “Das bin auch alles Ich, mein Wesenskern ist da überall”.
Rudolf Steiner erwähnt im eingangs zitierten Absatz den wichtigen Satz “Mensch, erkenne dich selbst”. Dieses “Mensch, erkenne dich selbst” stellt nämlich die Schlüsselfrage und die Schlüsselaufgabe des Menschen dar.
Worum geht es da? Es geht darum zu erkennen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, was ein Mensch eigentlich ist.
Denn der Mensch ist ein Abbild des gesamten Universums und daher muss Menschenerkenntis auch zugleich Welterkenntnis sein. Alle Aspekte des Kosmos spiegeln sich im Menschen wider und er ist harmonisch darin eingebettet. Sich selbst und damit auch alle anderen Menschen, die Welt um sich herum und das ganze Universum wirklich in aller Tiefe zu erkennen, das ist das richtig verstandene “Mensch, erkenne dich selbst”. Und das gelingt nicht mit dem Blick in das eigene Innere, nicht mit dem Analysieren des Innenlebens.
Echte, wahre Selbst- und Menschenerkenntis ist viel mehr und bedarf, wie oben im Eingangszitat gezeigt, beider Teile: des Alltagsbewusstseins (ich) und des bewussten, klaren Erkennens des geistigen Wesenskerns (Ich).
Wie kann das gelingen?
Der Weg zum Erkennen der geistigen Tatsachen über den Menschen und die geistige Welt hinter aller Materialität, das gelingt wie schon oft von mir beschrieben anhand der anthroposophischen Originaltexte von Rudolf Steiner oder auch anhand des Johannes-Evangeliums. Die Seelenkräfte werden beim richtigen Umgang mit diesen Texten ausgebildet und man kommt unter Aufrechterhaltung des klaren Denkens und Ich-Bewusstseins zum Erkennen der geistigen Tatsachen. Hierfür muss man sich ruhig und besonnen mit den Texten beschäftigen, sie lebendig lesen und so zum Geistigen in den Gedanken erlebend kommen.
Einen Anfang kannst Du machen mit den ersten Zeilen des Johannes-Evangeliums. Lies sie ruhig und unbefangen, baue die Bilder innerlich in Dir auf, und schaue dann bei jeder Begegnung hin - alles kommt Dir im Außen entgegen. Es reicht für die ersten Schritte, nur die ersten Sätze zu lesen und die Kraft in den Worten innerlich zu erleben. Deine Seelenkräfte werden schrittweise wachsen und Du beginnst, das Geistige hinter dem Materiellen zu erkennen und zu erleben.
Zunächst ist es nur ein Gefühl, aber je mehr Du “übst”, desto klarer werden die geistigen Bilder.
Wenn Du nicht mit dem Johannes-Evangelium arbeiten möchtest, dann kann ich Dir aus eigener Erfahrung sagen, dass das Kapitel Die Weltentwicklung und der Mensch* in dem Grundlagenwerk der Anthroposophie “Die Geheimwissenschaft im Umriss” sehr gut geeignet ist, um erste Schritte zu gehen, immer mehr von Dir selbst zu erkennen und davon, wie Du eingebettet bist in die Welt. Auch hier gilt: lies zunächst erste Zeilen und Absätze, baue die Bilder innerlich in Dir auf, lies langsam, ruhig und besonnen.
[ *Steiner, Rudolf (2020): Die Geheimwissenschaft im Umriss. Basel 12. Auflage, S. 115 ff.]
Mit dem Hineinwachsen in die geistige Welt und dem Erkennen Deines Wesenskerns im Sinne des “Mensch, erkenne Dich selbst”, wirst Du schrittweise Veränderungen an Dir bemerken.
Zum Beispiel wird Dein Denken lebendiger und das Lebendige drückt sich in Deinem Leben aus. Deine Perspektive auf die Dinge und Ereignisse wird größer und mehr Klarheit entsteht. Wünsche, Begierden, Ängste, Sorgen, Trauer über Ereignisse und Anspannung beginnen sich zu verändern. Wo jetzt Leere ist, entstehen Erkenntnisse und Erlebnisse, und innere Ruhe und Sicherheit entstehen. Die Prioritäten in Deinem Leben werden sich vollkommen verschieben und alles wird eine andere Gewichtung bekommen. Und Schritt für Schritt wirken diese Veränderungen dann in Deinem Leben und Du beginnst aus Dir heraus, Neues in Deinem Leben zu erschaffen.
Der Weg von der einseitigen Betrachtungsweise des “ich”, hin zum wahrhaften Erleben Deines “Ich” und damit Deines wahren Wesenskerns, das ist, wie man sagt, wirklich der “Gamechanger”.
Für Fragen, Anregungen und Austausch biete ich Dir an, auf mich zuzukommen und ein Stück gemeinsam zu gehen.